Die Spätzünder

Es ist die aufwendigste und teuerste Entschärfung, die es in Oranienburg je gegeben hat: Zwei Weltkriegsbomben, 250 Kilogramm Sprengstoff, 10 Meter unter der Erde, hochexplosiv, noch immer. Und es werden nicht die letzten sein: Das gefährliche Erbe des Zweiten Weltkriegs verseucht Oranienburgs Boden.  

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15. März 1945

In Oranienburg heulen plötzlich die Sirenen. Fliegeralarm. Dann tauchen hunderte Flugzeuge über der Stadt auf. Es sind alliierte Bomber.

Sie greifen Oranienburg mit über 5.000 Bomben an. Es ist der schwerste Angriff auf die Kleinstadt während des Zweiten Weltkriegs.

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Ein Luftbild vom 18. März 1945 dokumentiert die Folgen des Angriffs.

Die Bomben richten verheerende Zerstörungen in der Stadt an. Gebäude stürzen ein, ganze Straßenzüge werden weggesprengt.  

Etwa 40 Prozent der Menschen von Oranienburg verlieren ihr Zuhause und werden obdachlos. 

Das Konzentrationslager Sachsenhausen im Südosten der Stadt wird nicht getroffen.

Dezember 2022: Der Schutt ist weggeräumt, die Häuser sind wieder aufgebaut. Doch bis heute hallt der Krieg hier in Oranienburg nach: 10 bis 15 Prozent der damals abgeworfenen Bomben sind nicht explodiert, schätzt die Stadt. Noch immer liegen sie im Boden – eine schlafende Bedrohung.  

Die Bombensucher

Foto: Sebastian Welzel

Foto: Sebastian Welzel

März 2022. Bei Bauarbeiten an der ehemaligen Friedenthaler Schleuse im Nordosten Oranienburgs werden zwei metallische Gegenstände im Boden entdeckt.

Es handelt sich um Bomben. 250 Kilogramm schwer, abgeworfen von amerikanischen Fliegern. 

Das Team vom Kampfmittelbeseitigungsdienst wird alarmiert. Sprengmeister André Müller übernimmt das Sagen. Die Bomben liegen nur wenige Meter neben einer Siedlung entfernt. Die Kampfmittelbeseitiger müssen besonders vorsichtig vorgehen.

Schnell wird klar: Dieser Fall wird der schwerste, mit dem es Müller und seine Leute es je zu tun hatte.

Foto: Sebastian Welzel

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Die Bomben liegen zehn Meter unter der Erdoberfläche. Tiefer als jeder andere Sprengsatz, der je in Oranienburg gefunden wurde

Fast 80 Jahre lang sind sie nicht hochgegangen. Doch die Zeit konnte ihnen nichts anhaben: Sie sind immer noch genauso explosiv wie am Tag ihres Abwurfs. 

Wie kommen Müller und sein Team an sie heran? Allein das Freilegen wird zum Mammutprojekt:
Um sie auszugraben, müssen die Männer vom KMBD zwei Schächte ausheben und einen Teil der Havel zuschütten. Das Grundwasser müssen sie auf 20 Meter Tiefe absenken.
Mit gewaltigen Pumpen saugen sie das Wasser aus dem Boden. Hektoliter für Hektoliter.  

Einer der beiden Bombenschächte. Die Bomben liegen in circa zehn Metern Tiefe und sind schwer zu erreichen. (Foto: Yasser Speck)

Einer der beiden Bombenschächte. Die Bomben liegen in circa zehn Metern Tiefe und sind schwer zu erreichen. (Foto: Yasser Speck)

Um die Anwohnenden zu schützen, errichten Müller und seine Leute eine Wand aus Stahl. Ein Dutzend Schiffscontainer werden an zwei Seiten um die Fundstelle herum aufgestellt. Sie sollen die Wohnhäuser in der Nachbarschaft abschirmen. Wenn es knallt. 

Im Hintergrund zu sehen: die Container-Schutzwand. (Foto: Stadt Oranienburg)

Im Hintergrund zu sehen: die Container-Schutzwand. (Foto: Stadt Oranienburg)

3,3 Millionen Euro. So teuer waren die Vorkehrungen für eine Entschärfung in Oranienburgs Geschichte noch nie. Es dauert neun Monate, bis Müller und der KMBD die beiden Bomben freigelegt haben.

Die Entschärfung beginnt in den Morgenstunden des 7. Dezember.

Luftbild vom 22. März 1945 von der Friedenthaler Schleuse. Im roten Kreis sind die beiden Blindgänger gefunden worden. © GeoBasis-DE/LGB, dl-de/by-2-0Daten geändert 

Luftbild vom 22. März 1945 von der Friedenthaler Schleuse. Im roten Kreis sind die beiden Blindgänger gefunden worden. © GeoBasis-DE/LGB, dl-de/by-2-0Daten geändert 

Luftbild vom 22. März 1945 von der Friedenthaler Schleuse. Im roten Kreis sind die beiden Blindgänger gefunden worden. © GeoBasis-DE/LGB, dl-de/by-2-0Daten geändert 

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Es ist 8:00 Uhr, als die Polizei und Feuerwehr einen Teil der Stadt abriegeln.

9:00 Uhr - Die Drohne

Die Polizei und Feuerwehr suchen den Sperrkreis mit Drohnen ab. Die Einsatzkräfte können Menschen mit einem an der Drohne angebrachten Lautsprecher dazu auffordern, den Sperrkreis zu verlassen.
Das klingt so:

Die Drohne informiert über einen Lautsprecher, dass sich niemand mehr im Sperrkreis aufhalten darf. (Video: Sebastian Welzel)

Die Drohne informiert über einen Lautsprecher, dass sich niemand mehr im Sperrkreis aufhalten darf. (Video: Sebastian Welzel)

Das Gebiet muss weiträumig geräumt sein. Denn wenn die Bombe gesprengt werden muss, fliegen Splitter mit hunderten Kilometern pro Stunde durch die Luft. Eine tödliche Gefahr. 

Müller und sein Team stehen an der Räumstelle und warten. Wann wird der Sperrkreis freigegeben?  

Die Drohne ist mit einer Wärmebildkamera ausgestattet. Sie soll Personen finden, die sich noch im Sperrkreis aufhalten. (Video: Sebastian Welzel)

Die Drohne ist mit einer Wärmebildkamera ausgestattet. Sie soll Personen finden, die sich noch im Sperrkreis aufhalten. (Video: Sebastian Welzel)

Die Feuerwehr sucht mit einer Drohne nach Menschen im Sperrkreis. Dabei setzten sie eine Wärmebildkamera ein. (Foto: Sebastian Welzel)

Die Feuerwehr sucht mit einer Drohne nach Menschen im Sperrkreis. Dabei setzten sie eine Wärmebildkamera ein. (Foto: Sebastian Welzel)

Die Feuerwehr darf sich im Sperrkreis bewegen. (Foto: Sebastian Welzel)

Die Feuerwehr darf sich im Sperrkreis bewegen. (Foto: Sebastian Welzel)

09:50 Uhr - Die Sammelstellen

Doch die Feuerwehr trifft immer noch vereinzelt Personen innerhalb der Sperrzone an. Solange sich Menschen im Sperrkreis aufhalten, kann die Entschärfung nicht beginnen.

Außerdem werden Menschen, die den Sperrkreis nicht aus eigener Kraft verlassen können heraustransportiert. Während die Feuerwehr den Sperrkreis durchkämmt besucht der Bürgermeister von Oranienburg, Alexander Laesicke, Menschen in einer Sammelstelle.

Bürgermeister Laesicke (links) im Gespräch mit einer evakuierten Bürgerin. (Foto: Sebastian Welzel)

Bürgermeister Laesicke (links) im Gespräch mit einer evakuierten Bürgerin. (Foto: Sebastian Welzel)

Für die 2.800 Einwohnerinnen und Einwohner des Sperrkreises gibt es drei Anlaufstellen. Dort können sie sich aufhalten, während das Entschärfungsteam an den Bomben arbeitet. Wann sie wieder in ihre Wohnungen und Häuser können, wissen sie nicht.

10:34 Uhr - Der Schacht

Der Sperrkreis ist freigegeben. Jetzt wird der Luftraum gesperrt und Müller und seine Leute gehen an die Arbeit. 

Einer der beiden ausgehobenen Schächte. (Foto: Sebastian Welzel)

Einer der beiden ausgehobenen Schächte. (Foto: Sebastian Welzel)

Die eine Bombe liegt in 10,6 Metern, die andere in 8,2 Metern Tiefe. Über diesen Schacht klettern die Kampfmittelbeseitiger hinunter. Die Zünder an den Bomben müssen sie mit ihren Händen herausdrehen. Eine falsche Bewegung und die Bomben könnten explodieren. 

15:18 Uhr - Geschafft!

Die Entschärfer konnten alle Zünder aus den Bomben herausdrehen. Die beiden 250-Kilo-Kolosse können jetzt nicht mehr explodieren. Mit einem Spezialkran werden sie aus der Tiefe geholt.  

Video: Yasser Speck

Video: Yasser Speck

Der Sperrkreis wird wieder freigegeben. Die 2.800 Menschen dürfen zurück in ihre Häuser. Es ist nun wieder ein bisschen sicherer im Nordosten Oranienburgs. Doch es war nicht der letzte Einsatz für Müller und sein Team:  

Das Erbe des Krieges

© GeoBasis-DE/LGB, dl-de/by-2-0Daten geändert

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Denn der nächste Blindgänger wurde offenbar schon gefunden. An der Friedenthaler Schleuse haben die Metalldetektoren nur wenige Tage nach der Entschärfung wieder ausgeschlagen. Wieder eine Bombe.

Oranienburg gehört zu den am meisten bombardierten Kleinstädten Deutschlands. Allein 1945 warfen die Alliierten mehr als 10.000 Großbomben über der Stadt ab. Geschätzte 10 bis 15 Prozent der abgeworfenen Bomben sind nicht explodiert. 

Die Alliierten nahmen die Stadt im heutigen Landkreis Oberhavel vor allem wegen der Rüstungsindustrie ins Visier. In Oranienburg wurden Flugzeugteile für die deutsche Luftwaffe gebaut. Außerdem versuchten die Nazis in den Auer-Werken heimlich Uran anzureichern. Das Ziel: eine Atombombe. Amerikaner und Briten wollten das unbedingt verhindern. 

Die Flugzeuggeschwader bombardierten aber nicht nur gezielt militärische Ziele, sondern warfen ihre Bomben auch über Wohngebieten ab. Dabei verwendeten sie unterschiedliche Sprengkörper:  

Die Alliierten warfen zunächst nur Sprengbomben mit Aufschlagzünder ab. Die explodierten direkt beim Aufschlag. 

Dann wechselten sie ihre Taktik und setzten vermehrt andere Waffen ein: etwa Sprengsätze mit Zeitzündern. Die funktionieren über eine Chemikalie:  

Beim Abwurf wird ein Glasgefäß im Inneren der Bombe zerbrochen. Das Glasgefäß ist mit der Flüssigkeit Aceton gefüllt. 

Das Aceton tropft auf eine Kunststoffscheibe und frisst sich langsam durch die Sicherung. Sobald sie aufgelöst ist... 

... lösen die Haltekugeln den Schlagbolzen aus.

Der Schlagbolzen knallt auf den Detonator und die Bombe explodiert. Das kann ein paar Stunden oder sogar Tage nach dem Abwurf sein. 

Ziel der Spätzünder war es, die Menschen zu demoralisieren und ihnen das Gefühl zu geben: Die Gefahr endet nie.  

Doch eine Besonderheit in Oranienburg verhindert viele Detonationen:  

U.S.N.B.D. - UNITED STATES - BOMBS AND FUZES; PYROTECHNICS

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Als die Briten und Amerikaner im Jahr 1945 Bomben mit Langzeitzündern abwerfen, fallen diese mit der Spitze nach unten. 

Die Bomben dringen in den weichen Oranienburger Boden ein ...

... und bleiben mit der Spitze nach oben im Boden stecken.

Das Aceton, das die Kunststoffsicherung auflösen soll, ist im hinteren Teil. Die Kunststoffscheibe weiter vorn. Wenn die Bombe so im Boden stecken bleibt, kann das Aceton die Scheibe nicht auflösen - und die Explosion bleibt aus.  

Wo die schlafenden Bomben liegen? Luftbilder aus dem Zweiten Weltkrieg können helfen, die Blindgänger aufzuspüren:  

© GeoBasis-DE/LGB, dl-de/by-2-0Daten geändert

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Dieses Bild wurde am 15. April 1945 aufgenommen. Es zeigt das zerstörte Oranienburg von oben. Bilder wie dieses geben dem Kampfmittelbeseitigungsdienst bis heute Aufschluss, wo Blindgänger liegen könnten. Um das herauszufinden, vergrößern sie das Bild digital ... 

... und suchen nach Auffälligkeiten.
Bombentrichter sind leicht zu erkennen.
Die Luftbildauswerter suchen aber nach kleinen Löchern im Boden.

Wie diesem hier.

Unter diesem kleinen Loch könnte ein Blindgänger liegen. Die Luftbildauswerter markieren diese Löcher dann als "Blindgängerverdachtspunkt".

Mit dieser Methode suchen sie akribisch ganz Oranienburg ab. Auf der Suche nach dem nächsten Blindgänger.

Es gibt aber ein Problem.

Die Schatten der Häuser versperren den Luftbildauswertern den freien Blick. Auf diese Häuser sind definitiv Bomben gefallen. Es ist aber unmöglich zu sagen, ob sich in den Schatten Blindgänger verstecken.

"Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis Oranienburg bombenfrei ist. Ich werde das nicht mehr erleben"
Alexander Laesicke, Bürgermeister von Oranienburg

Der KMBD verlädt die Bomben in einen LKW. Sie werden auf dem Sprengplatz in Wünsdorf zerstört.

Der KMBD verlädt die Bomben in einen LKW. Sie werden auf dem Sprengplatz in Wünsdorf zerstört.

Die beiden Bomben waren Blindgänger Nummer 218 und 219, die seit 1991 in Oranienburg entschärft wurden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten noch hunderte Bomben im Oranienburger Boden.

Sprengmeister André Müller und sein Team beginnen jetzt die Vorbereitungen für die nächste Entschärfung. Nummer 220 wartet.